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Prof. Sorin Enachescu                                                                           
Universität der Künste Berlin                                                                     
Fakultät Musik - Abt. Klavier                                                                      
enachescu@t-online.de

                                                                             

„Streitschrift“ zum „Streitgespräch“ am 05.12.07 in der R.S Schule B-Kreuzberg
Kiersch versus Zander

 

Eine umfassende Würdigung des o.g. Abends ist wegen der Trugschlussfülle unmöglich; also greife ich nur einige Aspekte auf. Betreffend das Werk „Anthroposophie in Deutschland“ von Helmut Zander, hören wir nun eine Äußerung R. Steiners bei ähnlichen Situationen seinerzeit: 

„…Das Versuchen einer Verständigung mit diesen Menschen hat gar keinen Sinn und gar keine Bedeutung; denn diese Menschen werden außerdem sofort zur Verständigung neigen, wenn sie keine Anhänger mehr haben, die ihnen den Boden unter die Füße legen. Dann sind sie schon von selber bereit, sich zu verständigen. Die Notwendigkeit, die vorliegt, besteht gerade darin, die Menschen über sie aufzuklären. Wenn nur nicht leider gerade innerhalb unserer Kreise oftmals das Bestreben bestünde, in dieser Beziehung Kompromisse zu schließen, in dieser Beziehung sich nicht unbedingt zum Mute der Wahrheit zu bekennen! Es ist gar nicht nötig, dass wir uns jemals der Illusion hingeben, eine Verständi-gung mit dem oder jenem herbeizuführen, der sich ja gar nicht mit uns verständigen will. Hülfe es uns etwas? Was für uns notwendig ist, das ist: mutvoll eintreten für die Wahrheit, soviel wir können. Und das scheint mir insbesondere aus der Auffassung dessen hervorzugehen, was mit der Entwicklung der Menschheit verbunden ist.“  R. Steiner in Stuttgart, 28.12.1919, Das Mysterium des Menschlichen Willens, Vortrag vor Mitgl. der AG  (GA195-006)

Das o.Zitat R.S. sagt mehr als alles. Dennoch ist die folgende Polemik notwendig. Wäre der Organisation dieses vermeintlichen „Streitgesprächs“ am 05.12.07  in der Aula der Waldorfschule in B-Kreuzberg diese Aussage R.S. bewusst, hätte diese über dreistündige Farce nicht stattgefunden. Demnach kann ich nur kopfschüttelnd sagen: arme Anthroposophie, das geistige Erbe R. Steiners, in welche Hände geraten?! 

Es geht aber auch gar nicht anders: „divide et impera!“, (teile und herrsche)! Das haben die Kräfte erreicht, die in der AGiD zu den Berliner Ereignissen, zu den polizeilichen Aktionen in Dornach, zu den Ausschlüssen aus der AG, zu Mitgliederschwund, etc. geführt haben; wie in der Fabel über den Hasen und den Igel, ist man dauernd hinterher und zwar statt agierend, immer bloß reagierend!  Dazu noch amateurhaft und sich überall anbiedernd.

Die Katze war ziemlich schnell aus dem Sack; spätestens nach den Verkündigungen von Herrn Dr. Zander:„Anthroposophie sei eine Religion“, „R. Steiner sei ein genialer Eklektiker“, etc., eingebettet in Endlosketten von apodiktischen Behauptungen und Trugschlüssen, die vom Plenum brav hingenommen wurden, war es schnell klar woher und wohin alles soll. 

Nun zur Wissenschaftlichkeit des Buches: ich habe vorher das Buch nicht gelesen, und natürlich verspüre ich jetzt noch weniger das Bedürfnis dazu, nachdem der Verfasser auf die Frage hin, ob er bestimmte Schriften Steiners gelesen hätte, expressis verbis sagt, ihm wäre die Sekundarliteratur über die Anthroposophie sympathischer…Auf solchen Fundamenten ist das Haus entsprechend wackelig. Als „Akademiker“ sind mir oft wissenschaftliche Arbeiten begegnet, die auf  bequeme Denkgewohnheiten wie Postulate, Medienveröffentlichungen und publizierten Aussagen  basierend, Dinge in die Welt hinstellen, die das Ungewöhnliche, Unwägbare, Unbequeme, an „Ethos und Gewissen Appellierende“  relativieren, ins Banale herabstilisieren, um das „déjà vu“ (schon gehabt) zu suggerieren…Oder eben nur bestimmte Beweise suchen, die Bestimmtes beweisen sollen!

Wer den  Steinerschen Schriften entnommenen esoterischen Inhalte eine immanente innere Logik abspricht, welche auch dem alltäglichen, unbefangenen  Denken nachvollziehbar ist und sich eigentlich lückenlos durch sein ganzes Werk hindurch zieht, deren Originalität, ja sogar Aktualität ignoriert oder diese gar im „Einheitsbrei“ zeitgenössischer Überlieferungen lokalisieren oder verbannen will, hat etwas anderes als redliche wissenschaftliche Erkenntnisabsicht vor…oder ist der Sache nicht gewachsen. Eine Beweisführung dazu spränge den Rahmen dieser „Streitschrift“.

Alles, was politisch und medienaktuell klingelt, wird herausgegriffen – Rassenfeindlichkeit, Evolutions-ideologie, Jugendgefährdung, etc. – und diesem zutiefst humanistischen Werk R. Steiners unterstellt. Die Beweise, die  Prämissen und erkenntnistheoretischen Werkzeuge bewegen sich nach der Schlussfolge-rung:„Frage: hast du ein Bad genommen? Antwort: wieso, fehlt eins?“

Wenn ein Wissenschaftler Begriffe wie „Imagination“, „Inspiration“,  „Intuition“ (hier als pars pro toto) nur mit den Mitteln des alltäglichen Verstandes zu ergreifen imstande ist, ist es seine Sache.  Bedenklich wird es, wenn Dr. Zander zwecks Darstellung des Werkes R.S an der Öffentlichkeit alles ausklammert, was sich dem „Alltagsdenken“ entzieht, R. Steiner als Eklektiker abstempelt und die eigene Denk- und Wahrnehmungsgrenze zum Maßstab erhebt, die dann einzig und alleine als „akademisch“ hingenommen wird. Hier ist eine Zeitsymptomatik am Werke, die eben allzu vielen, die die Anthroposophie intim kennen,  bekannt ist, um gewisser Kräfte zusätzlichen Vorschub zu leisten und so Herrn Dr. Zander (noch) einen Wirkungsrahmen zur Selbstdarstellung an dem besagten Abend zu schaffen. Der Erkenntnis und der Wahrheit hat dieser Abend ganz zentrifugal entgegenwirkt. Warum übersieht die Organisation, noch dazu als eine Vertretung von Bund der Waldorfschulen diese Tatsache?

Dr. Zander verschweigt oder taxiert als bloßes „make the best of it“  alle sozialen, anthroposophisch inspirierten Einrichtungen z.B., die Schulen ohne Gewalterscheinungen  und eine menschenwürdige, ethosgetragene Medizin; ebenso verkennt er das anthroposophische „Menschenbild“, das dem Menschen ein „Ich“„zumutet“, diesem eine überzeitliche Entwicklungsnotwendigkeit „unterstellt“ und ihn so (eigentlich logisch nachvollziehbar!) aus der Unverbindlichkeit eines „Massendaseins“ befreit. Damit übersieht er als Kulturhistoriker die „unverwechselbare“ Individualität im Menschen, die durch Eigenver-antwortung in der sozialen und gesellschaftlichen Entwickelung im Gang der Menschheitsgeschichte, eine kontinuierliche Aktivrolle notwendig und erstrebenswert macht.

Dies entspricht wohl seiner Auffassung nicht und ist sein gutes Recht, somit selbst die Kategorie „Entwicklung“ zu ignorieren. 

Diese wesentlichen Pfeiler der Anthroposophie aber tendenziös anders öffentlich darstellen wollen, zeigt die Parteilichkeit des Vorhabens und die Absicht, die Anthroposophie in ihrer realen Strukturierung und Eigenschaft als möglicher positiver Impuls für die Ausgestaltung der eigenen Biographie und des sozialen Lebens zu  bagatellisieren, dazu durch Mitteln der Negativbelegung der o. g. Rasse-, Evolutions-begriffe, etc. zu blamieren oder zu diffamieren. 

Er bleibt somit im allgemeinen zeitgenössischen Trend, alles wirklich spirituelle, was sich nur von jedem Menschen allein und eigenverantwortlich und mit Rücksicht auf die wahren Bedürfnisse der Menschheit, im inneren Ringen mit sich selbst und möglichst kompromisslos verwirk-lichen lässt, zu verschleiern, zu relativieren oder gar auszuklammern.

Demnach würden nur die bequeme „Massenaleatorik“ und der alles bestimmende Konsum in einem globalisierten Zweckdenken gelten, statt der Bestrebung nach einer ethosbestimmten Zivilisation, durch eine über humanistischen Erkenntnissen gewonnene persönliche Freiheit des Individuums.

Zur Motivation des Werkes: wenn der Verfasser auf die Frage hin, wie er zum Entschluss kam, das 15 Jährige stattlich finanzierte Forschungsprojekt zu verwirklichen, die Antworten gibt, er hätte zum genannten Projekt an der Uni Bamberg gesagt, sollte sich niemand anderer finden, würde er sich anbieten, kann man schwer in seinem Vorhaben eine völlige Unparteilichkeit, Überpersönlichkeit oder gar „Wahrheitsliebe“ erkennen und  als für glaubwürdig akzeptieren, was auch immer „aufs Spiel setzen der eigenen Karriere“ heißen mag…  

Zur Organisation: was heißt es nun, „Streitgespräch“? Nach meiner „unmaßgeblichen“ Meinung, spätestens nach der „ Anthroposophie gleich Religion“ Postulierung von Dr. Zander, hätte ein so kluger und feinsinniger Lehrer wie Herr Kiersch, die Unvereinbarkeit der Begriffe, ja die vermutliche Absicht der Begriffsvermengung und der diametral stehenden Wahrnehmungen expressis verbis feststellen können. Es ist ja wie, wenn sich zwei in verschiedenen Sprachen unterhalten, wo nur einer der Beteiligten beide Sprachen beherrscht…Der andere kann so das Seine behaupten, ohne Sorge, er könnte zurechtgewiesen werden. Denn was einer nicht versteht, kann ihm auch nicht zum Vorwurf gemacht werden…

Ist es aber zur  veröffentlichten Wort -Tat geworden, muss als Trugschluss gerügt werden, sollte das „Streitgespräch“ dieses Prädikat verdienen. So wurde daraus eben nur pure Wortakrobatik. Streiter vertreten oder verteidigen etwas. Hier wurde nur elegant die Anthroposophie herabgewürdigt, mit oft höflichem Abnicken oder Schweigen der „Gegenseite“, bestenfalls mit ein Paar kritischen Bemerk-ungen zum Zanderschen Werkinhalt am Ende des Abends. Zu spät, denn die Worthülsen und die Begriffsverstellungen den Saal und die Wahrnehmung des Publikums schon aufgefüllt und betäubt hatten. Nein, ich stelle mir etwas anderes unter „Streitgespräch“ vor: so etwas wie “mutvoll auftreten für die Wahrheit, soviel wir können“ (s.o.g Zitat von R.S)

Alle Achtung gegenüber Frau Dr. Weickmann; sie hat elegant und kompetent durch den Abend geführt… Doch eine kurze Frage sei mir noch erlaubt: ist das „Zufall“(diese Kategorie fängt  bekanntlich dort an, wo das Denken aufhört), oder Absicht (ein Tribut, das der Unverbindlichkeit und

„Wertfreiheit“   heutiger Medienmoderationen gezollt wird): wenn sie gleich zu Anfang –Zeit hin oder her - die Publikumsteilnahme auf die Ebene des bloßen „Fragens ohne Statements“ zurecht rückt, setzt sie voraus, dass nur die Fragenden von den „Streiter“ etwas wissen dürfen, umgekehrt es aber nicht erwünscht ist, nach dem Einbahnstraßenprinzip. Beabsichtigt oder nicht, passt es bestens nur zu einer Selbstdarstellung von Dr. Zander und dann ist es auch egal w a s  er sagt

Wer ist aber der Nutznießer des Abends, wenn es ihn gibt? Für jüngere, unbefangene Menschen, eine vollkommene Benebelung, durch Begriffsvermengung (am Ende des Abends wurde nur so mit Begriffe wie „die Wissenschaft“ und „ich glaube“ von Herrn Zander in seinen Statements jongliert). Meine Wenigkeit ist nach über 37-jähriger Beschäftigung mit der Anthroposophie der „Primärliteratur“ etwas weniger anfällig…

Die „institutionalisierte Anthroposophie“ durch ihren Vertreter hat mal wieder etwas „verschenkt“. Das selbstbewusste, argumentierte Auftreten und Entgegentreten, in Anbetracht solcher öffentlichen Verstellungen, der riesenbuchförmigen Missinterpretationen  und der grenzenlosen Menge von pseudo-wissenschaftlichen Trugschlüssen, wären das einzig akzeptable „Streitgespräch“! Wie lange noch so naiv? Warum muss man immer die gleichen Fehler machen? 

R.Steiners Anfangszitat passt am besten auch zum Ende. Davor aber noch eine Bemerkung, bezüglich des Interviews von Dr. Zander in der FAZ am 10.06.07 (im Internet zu lesen!) Er ist sicherlich ein Kind seiner Zeit, als er z.B. u. A. moniert, „… Wenn man keine Dogmen eingesteht, kann man auch nicht über Lehrinhalte streiten. Mit dem Postulat höherer Erkenntnis haben sie (die Anthroposophen, n. S.E) ein autoritäres Verhältnis zur Wahrheit. Man stößt bei überzeugten Anthroposophen zu schnell auf Dinge, die nicht verhandelbar sind. Das ist in unserer Gesellschaft, in der alles diskutierbar ist, eine schwierige Position.“ Ein   glänzendes Beispiel seiner Methode der Vermengung von Begriffen, Formen und Inhalten zu Behauptungen: er verwechselt fließend Äpfel mit Birnen, die Anthroposophie mit den Anthroposophen, wenn er über das Phänomen „Anthroposophie“ redet! Bildhaft ausgedruckt,  ist das Bild schlecht geraten, ist die Farbe daran schuld und nicht der Maler…

Es wäre  die Sache eines„brainstorming“ unter den  Anthroposophen, die sich dazu berufen fühlen, das Erbe Rudolf Steiners der öffentlichen Wahrnehmung (vor allem den jüngeren Generationen) in dem Licht zu präsentieren, aus dem sich ethisch und sozialpolitisch positive, gedanklich kohärent - schlüssige und gesellschaftlich-freiheitliche Impulse für eine humanere Menschheits-entwicklung ergeben können – denn das wollte Rudolf Steiner !!!  .

Mein Fazit. In einer Zeit, wo händeringend nach Alternativen und Lösungen auf allen gesellschaftlichen Menschheitsebenen für die  globalisierten Problemverhältnissen gesucht wird, diese umfassende, sozialpolitische, kulturstiftende und humanismusfördernde Geisteswissenschaft und die Erkenntnistiefe der Steinerschen Anthroposophie tatenlos einer pseudowissenschaftlichen Missdeutung zu überlassen, würde auf Dauer – mutatis mutandis - einer „Gefährdung des sozialen Friedens“ (Otto Schily) gleichkommen. Das kann mir als bloße Behauptung angehängt werden. Ich möchte jedoch hierzu keine Beweise liefern müssen; denn manches ist nur dann erkennbar, wenn es bereits geschehen ist –somit zu spät! - und dann nützen auch die Beweise nicht mehr!

Leider sind die Brillen der geschichtlichen Perspektive, aus der die Anthroposophie in Deutschland und in der Welt i.d.R. heute wahrgenommen wird, allzu kurzsichtig, obwohl nicht mal ein Jahrhundert nach dem Tode ihres Urhebers vergangen ist. Zu viele Schlagworte, zuwenig Erkenntnisbereitschaft.

Die Behauptung, das geistige Potenzial dieser Erkenntnisse gehöre ins 19te Jhrh, beweist schlichte Unkenntnis, vielmehr Unverständnis der Anthroposophie. Dieses Unverständnis bewirkt auch  die Unkenntnis, das Missverständnis oder gar die bewusste Herabwürdigung deren jahrzehntelangen  kultureller Wirksamkeit durch ihre institutionalisierten Einrichtungen. Diese haben bereits genügende Beweise ihrer sozialen und gesellschaftlichen Berechtigung, ja Notwendigkeit, erbracht.

Ist der Samen gut, wird es auch die Ernte, soweit der Mensch das Seine zur Wahrheit und Wirklichkeit beiträgt. Denn wahr ist, was positive Wirklichkeit und Wirksamkeit wird. Dass diese Wirksamkeit kein Massenphänomen wurde und eine breite Öffentlichkeit noch nicht erreicht hat, gehört in die Dramaturgie und die Tragik der aktuellen Geschichte, wo nur die bequeme Konsumkultur und eine gewisse politische Beliebigkeit (vorwiegend reagieren, statt agieren!) in der Ausgestaltung des sozialen Lebens Allgemeingut und oft die Regel geworden sind. Die Anthroposophie (die nicht gleich „die Anthroposophen“ ist!) vermag jedoch mehr; sie lehrt und fördert das Agieren, verlangt aber auch mehr Einsatz im Denken und in der Geistesschulung.

Es ist ein Recht jüngere Generationen – soweit sie es wollen – das unbefangene Erfahren und Kennen lernen anthroposophischen Kulturguts zu erleben, nicht nur über tendenziöse Exegeten der „Sekundärliteratur“, sondern durch die objektive, moderne Erschließung der Quellen, im Lichte eines zeitgemäßen, unbefangenen, erkenntniswilligen Menschenverstandes.  

Sorin Enachescu
Berlin, den 13.12.2007