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findet sich - ohne Datum - folgende "Produktbeschreibung" Zanders zum Buch

"Rudolf Steiner - Eine Biographie" von Christoph Lindenberg

 

 

 

Neue Zürcher Zeitung
 

Ganz Dornach humpelt

Eine neue Biographie Rudolf Steiners

Von Helmut Zander

Rudolf Steiner geht mit einem Freund in Dornach spazieren. Steiner hinkt. Als beide zum Goetheanum zurückkehren, legt Steiner die letzten Meter festen Schrittes, wie unverletzt, zurück. Auf die verdutzte Frage des Freundes, was dies zu bedeuten habe, antwortet er: «Sonst humpelt morgen ganz Dornach.» Diese Geschichte, sei sie wahr oder gut erfunden, deutet auf das Problem einer jeden Beschäftigung mit Rudolf Steiner (1861–1925): auf die Überlast der Verehrung und der hagiographischen Verklärung, die bis heute nahezu jede Steiner-Biographie zu einem Erbauungsbuch werden liess. Das Fehlen einer kritischen Lebensbeschreibung ist ebenso misslich, wie die Wirkungen Steiners und der von ihm geprägten Anthroposophie evident sind: Von Wassily Kandinsky bis Joseph Beuys, von Christian Morgenstern bis Bruno Walter, von Waldorf-Schulen über Demeter-Milch, Weleda-Heilsalbe bis zur Bank «für Leihen und Schenken» zieht sich eine Spur teils punktueller, teils langfristiger Einflüsse Steiners. In Sachen Biographie weckt nun der Anthroposoph Christoph Lindenberg Hoffnung auf Abhilfe. Folgen wir Lindenbergs ausgreifender Darstellung anhand einiger markanter Punkte. Steiner wächst im Wiener Becken in einer kleinbürgerlichen Eisenbahnerfamilie auf, unter der Ägide eines freigeistigen und autoritären Vaters. Eine Gretchenfrage im Blick auf den späteren Anthroposophen lautet: Wie hält man es mit den von Steiner berichteten «okkulten» Erlebnissen, etwa der telepathischen Wahrnehmung des Todes einer Tante? Lindenberg nimmt die Hellsichtigkeit für bare Münze, und schon steht man vor einem zentralen Problem: Der Biograph findet weder hier noch später ein wirklich kritisches Verhältnis zu Steiners Selbstinterpretationen.

VATER GOETHE

Noch während des letztlich abgebrochenen Studiums, 1882, beginnt Steiner seine Mitarbeit an der Weimarer Edition der naturwissenschaftlichen Werke Goethes. Später wird er Goethe als Vaterfigur seiner Weltanschauung benennen. In diesen Jahren erscheinen auch die philosophischen Werke Steiners, in denen er sich in immer neuen Wendungen vom deutschen Idealismus zu lösen bestrebt ist. Lindenberg zeichnet die wechselnden Versuche in solider Kenntnis der verstreuten Fundstellen nach, aber es bleibt bei einer weitgehend unkritischen Rekonstruktion, in der nicht recht deutlich wird, warum die philosophische Zunft Steiners «Philosophie der Freiheit» in Grund und Boden kritisierte und das Werk ausserhalb der Anthroposophie der Vergessenheit anheimfiel. Das erlösende Wort über die fundamentalen Schwächen von Steiners Reflexionen bleibt aus.

In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer – so Steiner selbst – biographischen «Höllenfahrt» in der Berliner Bohème, die Lindenberg nicht verschweigt, aber in ihren nihilistischen und atheistischen Extremen glättet. Die Wiedergeburt des schwer angeschlagenen Mittrinkers am Berliner «Verbrechertisch» erfolgt, für alle Freunde überraschend, in der «Theosophischen Gesellschaft». Hier lernt Steiner wesentliche Elemente dessen kennen, was heute als typisch anthroposophisch gilt: die Idee einer Entwicklung des Kosmos und der Reinkarnation, eine Anthropologie der Leibes«hüllen» und die Vorstellung einer Evolution der Rassen, aber auch den Gedanken «esoterischer» Schulung sowie der Führung durch geheime «Meister».

Lindenberg bietet die bisher materialreichste Darstellung der theosophischen Jahre zwischen 1900 und 1913, deren Auslassungen um so deutlicher ins Auge stechen: Die freimaurerischen Rituale werden in verschleiernder Kürze abgehandelt; über die rassistischen Implikationen in Steiners Lehre erfährt man fast nichts; Kritiker und Aussteiger aus Steiners Theosophie kommen kaum zu Wort oder werden als «Gegner» und «Feinde» abqualifiziert. Schliesslich: Die führenden Theosophinnen und Theosophen erscheinen nur als Schatten ihrer realen Bedeutung. Lindenberg scheut vor einer entscheidenden Konsequenz zurück: Steiners Abhängigkeiten von der Theosophie herauszuarbeiten und als solche auch unumwunden zu benennen. Hier liegt für Anthroposophen ein heikler Punkt, droht doch in Anbetracht dessen eine Entthronung des immer auf seine Selbständigkeit pochenden «Lehrers».

VEREINSQUERELEN

Mit dem Ersten Weltkrieg bricht das bildungsbürgerliche Konventikelwesen der seit 1912 «Anthropo»sophischen Gesellschaft zusammen, wie Lindenberg recht offen darlegt. Steiner stürzt sich nun in die gesellschaftliche Praxis. Er entwickelt seit 1919 eine Gesellschaftstheorie und die Waldorfpädagogik, eine anthroposophisch orientierte Medizin und Landwirtschaft, ausserdem gründet er die «Christengemeinschaft» als eine Art anthroposophischer Kirche. Lindenberg erhellt, wie Steiner diese Felder in einer Atmosphäre unentwegter Vereinsquerelen und selbstmörderischer Überbelastung, oft zwischen Nacht und Nebel, konzipiert. Aber die Darstellung der Praxisfelder selbst befriedigt nicht. Lindenberg erschöpft sich vielfach im Referat; Analysen sind ohnehin im zweiten Teil des Werks, in dem der Autor sich mehr und mehr auf seine Chronistenpflicht beschränkt, rar.

Drei elementare Probleme stechen hier ins Auge: Zum einen sind heikle Themen übertüncht oder verschwiegen: Dass Steiner etwa in Fragen der Waldorfschule nicht nur von der «Lehrerrepublik», sondern auch schon einmal von «Diktatur» und «Hierarchie» gesprochen hat, sucht man vergebens. Zum anderen fehlen wiederum die Kontexte weitgehend: Steiner hat sich aus dem Fundus der Reformpädagogik und des Herbartianismus bedient und längst nicht alles quasi freischwebend entwickelt. Drittens schliesslich – nur kopfschüttelnd nimmt man es zur Kenntnis – verzichtet Lindenberg fast vollständig auf die Auseinandersetzung mit nichtanthroposophischer oder kritischer Literatur und nennt konsequenterweise nur seine eigenen Veröffentlichungen. Steiner, dirigiert durch Lindenbergs Auswahl und Interpretation, wird in das Ghetto seiner Selbstinterpretation eingeschlossen.

Lindenberg verschenkt die Chance, durch eine «Kontextualisierung» Steiners zwischen GoetheEuphorie und theosophischer Weltanschauungsproduktion ein Stück unbekannter Kulturgeschichte der Jahrzehnte um 1900 zu schreiben. Über die Esoterik als grosse Sinnstiftungsmacht der Jahrhundertwende lernt man nur wenig. Auch Steiners «Innenleben» bleibt verschlossen, vermutlich aus programmatischen Gründen, stehen doch psychologische Analysen bei Anthroposophen in schlechtem Ruf. Wie aber will man sich anders an die existentielle Dimension seines Lebens herantasten? Etwa an die Bewältigung seines Religionsverlustes durch eine titanische Religionsstiftung oder an die Unfähigkeit, hierarchische Beziehungen zu vermeiden? Auch Steiners Verhältnis zu Frauen bleibt als äussere Faktengeschichte opak. Lindenberg sieht zwar die grosse Bedeutung, die den Frauen in Steiners Leben zukam, aber dass Erotik oder Sexualität eine Rolle hätten spielen können, und sei es in sublimierter Form, kommt in der Konzentration auf das gnostische Motiv der Erkenntnissuche nicht vor.

Das wichtigste Ergebnis von Lindenbergs Arbeit bleibt die Zusammenstellung von Fundstellen, mit deren Hilfe man die anthroposophischen Hagiographien dereinst in eine kritische Biographie überführen könnte.

Kurzbeschreibung
Das ungebrochene Interesse an Leben und Werk Rudolf Steiners fordert seit langem eine fundierte Biographie des Begründers der Anthroposophie. Christoph Lindenberg legt nunmehr, neun Jahre nach Erscheinen seiner Steiner-Chronik, die das faktische Leben weitgehend zugänglich macht, diese Biographie vor, die das schwer überschaubare Werk Steiners erschließt. Mit dieser Biographie ist es gelungen, am Leitfaden des Lebens die Themen und Schwerpunkte des Werkes sichtbar zu machen.