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Rahel Uhlenhoff:

II. Redebeitrag über das inhaltliche Ergebnis der Urteils-Findungs-Kommission, vorgetragen auf der Mitgliederversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland vom 30. Mai bis 01. Juni 2008 in Stuttgart, Samstag, den 31. Mai 2008, ca. 10:23-10:38 in Stuttgart.

 

 

Florian Roder moderiert das morgendliche Plenum am Samstag, dem Tag der Gegenwart und Satzungsverabschiedung. Er leitet ein, dass nun erst die inhaltlichen Beiträge von Wolf-Ulrich Klünker, Barbara Messmer und Michael Schmock über „Selbsterkenntnis und sozialen Verantwortung auf dem Weg zu Christus“ kommen werden. Dass sich dann die Mitglieder im Plenum äußern dürften und dass zum Schluss Rahel Uhlenhoff noch Zeit zur Aussprache über die Berliner Krise gegeben werde. Ihr gestriger Auftritt habe ja gezeigt, dass bei ihr Schmerzen vorhanden seien, die man doch in die Mitgliederversammlung versöhnend integrieren wolle. Es entsteht durch die vorangegangene Unterdrückung der Urteils-Findungs-Kommission in der Tagesordnung der vollkommen falsche Eindruck, als habe Frau Uhlenhoff als einfaches Mitglied von einem persönlichen Problem anstatt als Mitglied der Urteils-Findungs-Kommission von einem Problem der Anthroposophischen Gesellschaft gesprochen. Nicht Frau Uhlenhoff erleidet Schmerzen, sondern sie hat, von der Mitgliederversammlung beauftrag, sich mit den Schmerzen der Anthroposophischen Gesellschaft so auseinandergesetzt und verbunden, dass sie diese an sachgemäßem Ort und zu  sachgemäßer Zeit  zur Sprache bringen muss, wenn die Worte über Christus nicht vollkommen hohl und der Weg zu Christus nicht ein Holzweg bleiben sollen.

 

Liebe Mitglieder,

 

ich stehe hier vor Ihnen in „innerer Ohnmacht“, wie ich auch gestern vor ihnen in „innerer Ohnmacht“ stand. Aber aus dieser Ohnmacht erwächst einem, wie Florian Roder es gestern dargestellt hat, eine neue Aufrichtekraft zur „inneren Ehrlichkeit“.

Nach meinem bewusst temperamentvollen Redebeitrag kamen zahlreiche Menschen auf mich zu. Die einen sagten: „Donnerwetter noch mal, das hätten Sie nicht tun dürfen, das war ein Fehler, ein Rechtsbruch. Sie wissen, dass man gegen Sie auf Unterlassung klagen kann?“ Die anderen sagten: „Donnerwetter, noch so jung und schon soviel Mut! Jetzt habe ich wieder Vertrauen in die Zukunft der Anthroposophischen Gesellschaft.“ Ja, mit dem Mut ist das  immer so eine Sache. Mir wurde im Vorfeld von verschiedenen Menschen bedeutet: „Also, wenn Sie einmal soviel Mut zusammenbringen und das aussprechen, was wirklich in dieser Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht, aber meistens unter den Teppich gekehrt und beschwichtigt wird, dann werden Sie vom Vorstand mundtot gemacht und kalt gestellt. Sie werden keinen Auftrag mehr übertragen und kein Amt mehr angetragen bekommen.“ Wissen Sie, was ich daraufhin geantwortet habe? Ich habe geantwortet: „Also, wenn das wirklich so sein sollte, dann muss ich es ja gerade machen. Dann muss eben einmal jemand hinstehen und auf die Doppelgängergestalt der Anthroposophischen Gesellschaft hinweisen, auch auf die Gefahr hin, dass der Hinweiser dann selbst für den Doppelgänger gehalten wird, dessen Gestalt man sich am liebsten entledigen will. Und wenn man diese Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und diesen Mut nicht schätzt und mir keinen Auftrag mehr geben will, nun, dann habe ich in dieser Anthroposophischen Gesellschaft auch nichts mehr verloren. Aber bis es soweit kommen sollte, werde ich mit der mir möglichen Aufrichtigkeit und Klarsicht dafür einstehen, dass die Freiheit der Individuen im Geistesleben keine leere Phrase, sondern die Grundlage, ich meine wirklich die Grundlage aller anthroposophischen Arbeit bleibt.

 

Als die Urteils-Findungs-Kommission ihre Arbeit vor knapp zwei Jahren aufgenommen hat, da hat Herr Dr. Kröner unsere Untersuchungstätigkeit den interviewten Beteiligten gegenüber gerne mit einem Witz eingeleitet: Ein nahezu todkranker Patient wird zu einem Arzt gebracht. Der Arzt schaut sich den Patienten an und sagt daraufhin fest entschlossen: „Also, schreiten wir zum Äußersten: zur Diagnose!“ (Ein Raunen und Lachen geht durch den Saal) Das war das humorvolle Motto unserer Untersuchung und Selbstbeschränkung. Die Anthroposophen wünschen sich ja gerne, dass man gleich mit der Therapie beginnt, damit wieder Frieden zwischen den Lagern herrscht. Wenn aber die Therapie der Diagnose vorausgeht, dann ist die Therapie, trotz guten Willens, meistens zum Scheitern verurteilt. Daher: erst die Diagnose und dann die Therapie. Wir haben uns auf die Diagnose beschränkt und erst zum Schluss des Abschlussberichts einige therapeutische Empfehlungen formuliert. Doch, was hat nun die Diagnose ergeben?

 

Die Diagnose der Berliner Krise hat ergeben, dass der Konflikt nicht durch Judith von Halle verursacht worden ist, sondern sich an Judith von Halle neu entzündet hat. Genauer gesagt: er hat sich als ein geistiger Konflikt an dem entzündet, was sich mit Judith von Halle aus der geistigen Welt als eine geistige und damit geisteswissenschaftliche Herausforderung in die Anthroposophische Gesellschaft hineingestellt hat. Weil dieses Rätsel oder Mysterium der Stigmatisation am physischen Leib von Judith von Halle aber nicht in einer geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung gelöst wurde, hat sich diese Auseinandersetzung dann auf die soziale und rechtliche und schließlich auch auf die wirtschaftliche und territoriale Ebene verlagert und dort gewissermaßen kompensatorisch ausgetobt. Auf diesen Ebenen traf die geistige Herausforderung auf die Menschen- und Konfliktkonstellation einer älteren Berliner Krise, deren Vorgeschichte bis in die späten 1970er Jahre zurückreicht. 1979 hat sich der Initiativkreis (IK) des Arbeitszentrums Berlin (AZB) schon einmal in eine Minderheit und eine Mehrheit gespalten; damals allerdings nicht am physischen Leib einer Person, sondern am physischen Leib des anthroposophischen AZB. Der IK hat sich namentlich an der Frage gespalten, welches Haus an welchem Standort der anthroposophischen Arbeit in Berlin die geeignete Hülle geben könnte. Damals hatten Peter Tradowsky und Hermann Girke der Mehrheitsfraktion angehört, während sich die Verhältnisse achtundzwanzig Jahre später umkehrten und sie zu zweit nunmehr der Minderheitsfraktion im IK angehörten.

 

Peter Tradowsky war auch derjenige, der Judith von Halle zum Januar 2004 als Sekretärin ins Rudolf Steiner Haus des AZB holte und als erster in der Passionszeit 2004 ihre auftretenden Wundmale als Stigmata erkannte. Für Judith von Halle ging mit der Stigmatisation ein so fundamentaler Wandel ihrer ganzen Wesensgliederkonstitution bis in den physischen Leib einher, dass ihr Körper fortan keinerlei physische Nahrung mehr aufnehmen konnte und brauchte. Zudem wandelte sich ihre schon vorher vorhandene hellsichtige Wahrnehmungsfähigkeit in der Weise, dass sie nunmehr auch auf dem Wege einer Art physisch-sinnlichen Zeitreise Christi Kreuzigung und Auferstehung miterleben konnte. Weder die Stigmata noch die Nahrungslosigkeit ließen sich auf Dauer verbergen, sodass sich Judith von Halle zu der Entscheidung durchrang, aufrichtig gegenüber Christus und der geistigen Welt zu sein, indem sie ihrer Aufgabe auch nach außen hin Ausdruck verlieh, für Christus zunächst einmal innerhalb desjenigen sozialen Umfelds zu zeugen, in dem die Stigmatisation aufgetreten war: der Anthroposophischen Gesellschaft.

 

Zu einer ersten Aufklärung über das in Berlin aufgetretenen Phänomen schicken die Mitarbeiter des Rudolf Steiner Hauses, ohne Rücksprache mit dem IK, aber unter dem Briefkopf des AZB einen Informationsbrief an die Lektoren der Freien Hochschule, Vertreter der Arbeitszentren, Mitglieder des IK, des deutschen Vorstandes und des Dornacher Hochschulkollegiums. Dieser Brief bestand aus vier Teilen: 1.) Martin Kollewijns phänomenologische Darstellung, 2.) Peter Tradowskys geisteswissenschaftliche Erläuterung („Phantomleib“-Interpretation) und 3.) Peter Tradowskys Vita der Stigmatisierten sowie 4.) Judith von Halles persönliche Erklärung. In dieser Erklärung schrieb Judith von Halle, dass sich der Christus durch sie hindurch an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft wende, welche bitte nicht in bewundernde Anbetung ihrer Person verfallen mögen, sondern in geisteswissenschaftlicher Beschäftigung mit den an ihr aufgetretenen Phänomenen ihr Verständnis und ihre Verbindung zum Christuswesen vertiefen könnten. Auf diesen Informationsbrief reagierte das Dornacher Hochschulkollegium mit einer freundlichen Eingangsbestätigung, der deutsche Vorstand gar nicht und der Berliner IK mit einer Einladung zu einem Gespräch.

 

Bei diesem Gespräch vom 5. Oktober 2004, das von allen Beteiligten als eine sehr offene Frage- und Antwortrunde erlebt wurde, hat Nana Göbel, damals Mitglied des Berliner IK und des deutschen Vorstands, Judith von Halle angebrüllt, nachdem diese ihr ins Wort gefallen war. Die anthroposophische Generalsekretärin hat der stigmatisierten Sekretärin gegenüber daraufhin drei Aussagen gemacht, die sie selbst inhaltlich im Interview der UFK bestätigt hat: 1.) Sie fragte Judith von Halle, ob sie die Stigmata wieder wegbekommen wolle. Nach ihrer Recherche habe Rudolf Steiner dem zeitweise stigmatisierte Richard Pollack, einem Miterbauer des ersten Goetheanums, eine Meditation zur Überwindung der Stigmatisation empfohlen, woraus sie schloss, dass Steiner die Stigmatisation für einen überwindbaren und überwindungsbedürftigen Zustand atavistischer Geistigkeit hielt. 2.) Sie stellte fest, dass Judith von Halle weder die Stigmatisation noch die Nahrungslosigkeit noch ihre hellsichtigen Fähigkeiten auf dem regulären anthroposophischen Schulungsweg erworbenen habe. Wer bestimmte Phänomene als häretisch ausgrenzt und den Schuldungsweg nach eigenem Steiner-Verständnis dogmatisch eingrenzt, dem kann man natürlich auch einmal die Frage stellen, ob Rudolf Steiner als Begründer des anthroposophischen Schuldungsweges vor dessen Begründung selbst seine hellsichtigen Fähigkeiten auf dem anthroposophischen Schulungsweg erworben habe. Ober ob wir in der Anthroposophischen Gesellschaft vielmehr, wie die Maria im ersten Bild des ersten Mysteriendramas sagt: jedes Menschen Wesensart gelten lassen, die verschiedenen Geistesströmungen willkommen heißen und nur die eine Bedingung aufstellen, dass man seine hellsichtigen Forschungsergebnisse geisteswissenschaftlich begründen möge. 3.) Nana Göbel behauptete, die Stigmatisation schade der Anthroposophischen Gesellschaft; nach innen, weil die Mitglieder wie gläubige Schäfchen der neuen Heiligen von Halle hinterherlaufen könnten, und nach außen, weil Presseorgane wie die Bildzeitung oder Der Spiegel die Anthroposophische Gesellschaft durch skandalöse Berichterstattung wieder einmal in Verruf bringen könnten. Fakt ist aber, dass die Mitglieder bereits bei den ersten Mitgliedervorträgen über Christologie Judith von Halle mündiger als die damaligen Steiner-Zuhörer kritisch fragten: „Auf welche Weise kommen Sie denn zu ihren Forschungsergebnissen?“ Und Judith von Halle beschreibt seither jeweils im Geleitwort ihrer Bücher selbsttransparent ihre zwei Wahrnehmungsweisen oder Erkenntnisquellen: zum einen das physisch-sinnliche Miterleben der Geschehnisse auf dem physischen Plan und zum anderen das mit dem aus dem Astralleib herausgehoben Ich übersinnliche (und untersinnliche) Überschauen der damit verbundenen Vorgänge in der geistigen Welt. Und Fakt ist auch, dass weder die Bildzeitung noch Der Spiegel bis zum heutigen Tage über die innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft aufgetretene Stigmatisation berichtet haben.

 

Peter Tradowsky hat Nana Göbels ausfälligen Wutausbruch und ihre drei beleidigenden Aussagen den Berliner Mitgliedern auf der Mitgliederzusammenkunft vom 12. März 2005 auf deren Nachfrage hin, aber in ihrer Abwesenheit erzählt. Herr Tradowsky hatte bereits im Jahre 2002, als die Kandidaten für den neuen Vorstand von der Konferenz der Arbeitszentrumsvertreter aufgestellte wurden, Martin Kollewijn, dem Vertreter des AZB, einen Brief mitgegeben, in dem er Nana Göbel wegen Ämterkumulation – was in gewisser Weise auch auf ihn selbst zutraft – und menschlich untragbaren Verhaltens als nicht  vorstandswürdig kritisiert. Das wusste Nana Göbel natürlich. Darüber hinaus hat Peter Tradowsky auch Justus Wittich wegen Mitwisserschaft an der VVV-Krise kritisiert und gemeint, dieser könne sich nur durch eine gründliche Aufklärung der Finanzkrise rehabilitieren. Dies ist ja zu einem gewissen Grade dann auch geschehen. Aber Justus Wittich wusste natürlich um Peter Tradowskys Insiderkritik. Fernerhin hat Peter Tradowsky noch Wolf-Ulrich Klünker im Rahmen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft für seine Absicht, die Klassenstunden auch für Nicht-Klassenmitglieder zu öffnen und damit von Rudolf Steiners Vorgaben abzuweichen, auf einem Lektorentreffen dezidiert kritisiert. Und das wusste Herr Klünker natürlich auch. Sie können sich also vorstellen, wie diese drei Vorstandsmitglieder: Nana Göbel, Justus Wittich und Wolf-Ulrich Klünker von Peter Tradowskys genervt waren. Sie können sich sicherlich auch vorstellen, wie diese Vorstandsmitglieder den Wunsch entwickelten, sich Peter Tradowskys Kritik dadurch vom Hals zu schaffen, dass sie ihm die Vollmachten entziehen.

 

Ein Mann aus dem Publikum steht auf und ruft zur mir herunter: „Was Sie uns da erzählen, das kennen wir doch längst! Warum behelligen Sie uns mit dieser Darstellung und stehlen uns unsere Pause?“ (Murren im Saal). Ich bleibe ruhig und rede weiter.

 

Doch als nach dem Streit um die Liberalisierung oder Nichtliberalisierung der Klassenstunden die Stigmatisation als Deutungsproblem in der Anthroposophischen Gesellschaft auftrat, ging der Streit zwischen Wolf-Ulrich Klünker und Peter Tradowsky in eine nächste Runde. Herr Klünker hat in den Mitteilungen vom Mai 2005 zur geistigen Vorbereitung der Mitglieder auf die Mitgliederversammlung von 2005 einen Artikel unter dem Titel „Anthroposophie als Geistesgegenwart“ veröffentlicht. In diesem Artikel mahnte er die Mitglieder, dass heute „massive elementare Erscheinungen im Blutzusammenhang“ auftreten können, die „ungemein spirituell erscheinen“, es aber in Wahrheit gar nicht sind. Dies herauszufinden, bedürfe schon einer geschulten „situativen Urteilsbildung“. Weiter fügte er in impliziter Abgrenzung gegen die Katholische Kirche hinzu, dass das Erscheinen des Geistes im Physischen kein Beweis für das Wirken des Geistes darstellen könne. Peter Tradowsky replizierte auf Wolf-Ulrich Klünkers Artikel mit einer von Justus Wittichs Zensur kassierten Glosse, die er mit der neckende Frage überschrieb: „Was mag der Autor wohl gemeint haben [?]“  Kann er mit den massiven Erscheinungen im Blutzusammenhang möglicherweise ein stigmatisiertes Mitglied in unseren Reihen gemeint haben? (Klünker hat das intern abgeleugnet.) Doch dann zog er die Anspielung auf Judith von Halle wieder ironisch in Zweifel, indem er Klünkers situative Urteilsbildungsgrundlage schonungslos offen legte: Klünker habe Judith von Halle noch nie gesehen, weder gesprochen noch vortragen hören; man muss hinzufügen: ob er eines ihrer Bücher gelesen habe, wisse man nicht.

 

Der Doktor der Theologie und Philosophie hat im Interview der Urteils-Findungs-Kommission gegenüber erklärt, dass er die konkrete Begegnung mit Judith von Halle deshalb nicht gesucht habe, weil ihn das Phänomen innerlich nicht bewegt und äußerlich nicht interessiert habe. Was ihn daran interessiere, dass sei nicht das Phänomen selbst, sondern dessen Auswirkungen im sozialen Umfeld. Judith von Halles Erklärung im Informationsbrief halte er wegen der Doppeldeutigkeit für lügenhaft. Einerseits heuchle sie Bescheidenheit der eigenen Person und andererseits maße sie sich mit Christus eine Größe an, die sie nicht durch ihre „Ich-Dignität“ decken könne. Sie wolle offensichtlich einen wichtigen christlichen Einschlag verkörpern und sich dadurch wohl Geltung und Geld verschaffen („Publicity-Maschinerie“). Wenn ein Vorstandsmitglied auf einer solch wackeligen Urteilsgrundlage, wie oben beschrieben, eine real stigmatisierte Sekretärin derart sozial stigmatisiert, dann muss man den Spieß des Urteils einmal umdrehen und ihn zurückfragten: kann es sein, dass sich ein zweifach promoviertes Vorstandsmitglied in seiner geistigen Größe durch eine stigmatisierte Sekretärin in seiner Geltung herabgesetzt fühlt? Wolf-Ulrich Klünker ist nicht der einzige, der so denkt. Aber er ist in dieser Hinsicht ein Vordenker, dem Vorstandsmitglieder wie Mechtild Oltmann und Nana Göbel wie einem spiritus rector nachgefolgt sind. Es scheint, als ob allein die Präsenz von Judith von Halle, ihre christologischen Forschungsergebnisse, ihre Nahrungslosigkeit und ihre Stigmatisation  ausreichten, um in den Seelen bestimmter Menschen, insbesondere solcher in Machtpositionen, spirituellen Neid hervorzurufen, der sich dann in derartigen Unterstellungen offenbart.

 

Sie können sich selbst ein Bild davon machen, wie nicht nur Peter Tradowsky, sondern auch Judith von Halle einem weltlichen und geistlichen Vorstand ein Dorn im Auge sein konnten:  Peter Tradowsky, dieser ewige Kritikaster, der – was ja noch nerviger ist – mit seiner Kritik aufgrund interner Kenntnisse auch dummerweise meistens ins Schwarze trifft. Und Judith von Halle, diese Hochmütige, die schon in jungen Jahren solch selbständige wie ebenso profunde geisteswissenschaftliche Forschungsergebnisse vorlegt, wie es die meisten Pfarrer, Theologen und Anthroposophen in diesem Leben nicht mehr erreichen werden. Wenn der Vorstand sich ihrer Mitsprache und Mitarbeit in der Anthroposophischen Gesellschaft entledigen könnte, dann könnte er sich vielleicht auch ihrer Kritik und geistigen Herausforderung entledigen? Am 27. Juli 2005 fand in Dornach eine Art Schlichtungsgespräch statt, bei dem Paul Mackay den beiden als konfliktuös empfundenen Personen im IK, Peter Tradowsky und Nana Göbel, vorschlug, paritätisch aus dem IK zurückzutreten. Frau Göbel willigte sogleich generös ein, nicht zuletzt da sie als Generalsekretärin der Landesgesellschaft damit nicht viel Macht einbüßen würde. Herr Tradowsky lehnte dieses Ansinnen mit der Begründung ab, dass nicht die Dornacher Vorstandsmitglieder abstrakt, sondern die Berliner Mitglieder konkret vor Ort über seine Weiterarbeit oder seinen Rücktritt zu entscheiden hätten. Peter Tradowsky, der gut dreißig Jahre das Berliner Feld anthroposophisch umgegraben, besät und beackert hat, hätte als Geschäftsführer, Schatzmeister und IK-Mitglied mit einem Rücktritt sehr schnell sehr viel Macht verloren. So paritätisch wie der Vorschlag klingt, so asymmetrisch wären seine Folgen für die Positionen der beiden Betroffenen ausgefallen. Kurzum, dieser Schlichtungsvorschlag scheiterte und damit auch der Versuch, Peter Tradowsky auf einem gütlichen Weg die Vollmachten zu entziehen.

 

Der Moderator Florian Roder unterbricht die Aussprache: „Frau Uhlenhoff kommen Sie jetzt zum Schluss, Sie sind schon längst über der vereinbarten Zeit.“

Ich entgegne: „Ich habe um eine Viertelstunden Redezeit gebeten, wenn Sie mir jetzt nur sieben Minuten einräumen, muss ich überziehen, um den Mitgliedern den Boden des Konflikts vor Augen führen zu können.“ Dann fahre ich fort.

 

Doch Herr Tradowsky hat sich nach mehreren Alleingängen gegenüber dem IK einen weiteren Fehler erlaubt. Er hat zum angeblichen Schutz von Sekretärin, Sekretariatscomputer und -kasse gegenüber dem Zugriff von Martin Kollewijn das Sekretariatsschloss austauschen lassen. Er hatte sich dafür in Dornach eine Rüge eingefangen, die aber als eine Abmahnung rechtsunwirksam war. Aber der Vorstandskritiker hat mit dieser Tat seinen Kritikern einen Kündigungsvorwand geliefert, dessen Tatsache er auch bei sofortiger Rückgängigmachung nicht wieder ganz rückgängig machen konnte. Einen Tag nach dem gescheiterten Schlichtungsgespräch schickte Nana Göbel eine Aktennotiz an ihre Vorstandskollegen, in der sie nun eine härtere Gangart gegenüber Tradowsky vorschlug: 1.) Der Vorstand solle nun zeitnah auf Tradowskys Fehler mit dessen Kündigung reagieren. 2.) Dafür müsse der Vorstand Tradowskys Arbeitsvertrag prüfen. Nana Göbel, mit den Berliner Angelegenheiten bestens vertraut, wusste, dass Tradowsky seinen Anstellungsvertrag kürzlich in einen nicht schriftlich fixierten Honorarvertrag umgewandelt hatte. 3.) Für diese Unwägbarkeit müsse der Rat eines Arbeitsrechtlers aus der Kanzlei Barkhoff & Partner eingeholt werden. Und 4.) wolle Nana Göbel nicht selbst die Kündigung unterschrieben, sondern von zwei berlinfernen Vorstandsmitgliedern unterschrieben wissen. Welche zwei Vorstandsmitglieder würden sich aber für den eklatanten Eingriff in die Autonomie eines Arbeitszentrums die Finger schmutzig machen? Wohl doch nur zwei Vorstandsmitglieder, die mit Tradowsky noch eine Rechnung zu begleichen hatten: Justus Wittich und Wolf-Ulrich Klünker. Sie unterschieben am 12. August 2005 die Kündigung von Peter Tradowsky und Judith von Halle sowie die Beurlaubung der mit ihnen zusammenarbeitenden Sekretärin Edda Lechner; und das alles ohne eine vorangehende Abmahnung. Der ganze Dilettantismus, der dadurch in das Kündigungsprozedere hineingekommen ist, der wäre nicht dort hineingekommen, wenn Herr Wittich und Herr Klünker die Anweisungen von Frau Göbel befolgt hätten. Also man muss schon anerkennend sagen: die Generalsekretärin Göbel stand auf der Höhe des arbeitsrechtlichen Problembewusstseins.

 

Auf diese Weise sind Peter Tradowsky, Judith von Halle und Edda Lechner auf örtlichem Felde, in das sie sich mit ihrer anthroposophischen Arbeit für das AZB eingewurzelt hatten, herausgerissen worden. Sie haben dann mit weiteren Mitstreitern zusammen auf sachlichem Felde im Rahmen der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft die Freie Vereinigung für Anthroposophie gegründet.

Die Urteils-Findungs-Kommission ist nach zweijähriger Untersuchung zu der Ansicht gekommen, dass dieses Vorgehen des Vorstands gegenüber Peter Tradowsky, Judith von Halle und Edda Lechner sachlich, menschlich und in seiner spirituellen Konsequenz ein unwürdiges Vorgehen war. Daher möchte die Urteils-Findungs-Kommission für die Zukunft dem Vorstand gegenüber die folgenden Empfehlungen aussprechen:

  1. Ganz allgemein: die Meinungs- und Pressefreiheit zu berücksichtigten, keine Zensur walten zu lassen, sondern Richtigstellungen und Gegenartikel, auch Glossen, an derselben Stelle im Folgeheft zu publizieren.

  2. Speziell zu Peter Tradowsky: sich für die Kündigung förmlich zu entschuldigen.

  3. Speziell zu Judith von Halle:

  1. Die drei Phänome: Stigmatisation, Nahrungslosigkeit und die geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Christologie als Tatsachen anerkennen.

  2. Judith von Halle im Rahmen der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland die finanziellen Mittel und die Möglichkeit geben, ein Kolloquium mit kompetenten Persönlichkeiten ihrer Wahl einzuberufen, um die drei besagten Phänomene aus allgemein menschenkundlicher sowie speziell geschichtswissenschaftlicher, medizinischer, ernährungswissenschaftlicher und theologischer Sicht zu erforschen.

  3. Für die dritte und letzte Empfehlung möchte ich an die gestrigen Worte von Frau Göbel anknüpfen, dass wir auch in Deutschland langsam Sektionsbewusstsein entwickeln sollten, und ich möchte den hier anwesenden Dornacher Vorstandsmitgliedern: Paul Mackay, Cornelius Pietzner und  Bodo von Plato für ihr Gehör danken. Die Empfehlung lautet: Für Judith von Halle im Rahmen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft eine Christologische Sektion zu gründen und sie, sofern sie niemand anderen vorschlägt, mit deren Leitung zu betrauen. Rudolf Steiner hat ja immer wieder betont, dass die Sektionen nicht nach schematischen Fakultätsschablonen, sondern aus den fachkundigen Persönlichkeiten heraus gegründet werden sollten. Da Judith von Halle in den vergangenen Jahren eine Fülle neuer Forschungsergebnisse auf christologischem Gebiet vorgelegt hat, die von zahlreichen Mitgliedern in Form ihrer Vorträge und Bücher aufgenommen wurden, wäre es an der Zeit, ihr eine entsprechende Sektion als rechtlich-soziale Hülle zu geben und damit die Kündigung auf örtlichem Feld durch die Anerkennung auf sachlichem Feld ein Stück weit wieder gut zu machen.

 

Die Mitglieder erheben sich erschüttert ob der klaren Worte und genervt ob meiner Zeitüberziehung rasch von ihren Stühlen und gehen in die Kaffeepause hinaus. Hartwig Schillers Worte klingen mir noch im Ohr: „Bitte bringen Sie zum Schluss versöhnliche Worte.“ Ich denke: ja, versöhnlicher können die Worte in strategisch weitblickender ebenso wie in spirituell tiefblickender Hinsicht wohl kaum gewählt sein. Dann erinnere ich mich an eine Unterredung mit Hartwig Schiller und Mechtild Oltmann zurück, bei der Frau Oltmann meine Kritik an dem Anthroposophiehistoriker Helmut Zander, dass man die anthroposophische Vereinsgeschichte nicht auf eine politische Machtgeschichte reduzieren könne, mit der sinngemäßen Bemerkung quittierte: aber wieso, Machtpolitik ist doch eine Dimension, die man nicht ausblenden darf, sondern auch darstellen sollte. Mittlerweile denke ich, Mechtild Oltmann hat Recht damit, dass Helmut Zander Recht hat.

 

Stand: Berlin, 16. Juni 2008

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